Eine fleischige Angelegenheit

Bulette“ – das ist gleichzeitig ein Schimpf- und Kosewort für Hauptstädter aus der Perspektive Rest-Deutschlands. Was man nicht alles damit assoziieren könnte: Eine rundliche Körperform (stimmt meist nicht), etwas gammelig im Aussehen (schon eher), unkompliziert und informell (oh ja), undefinierbare Zutaten (definitiv), 24 Stunden verfügbar (das gilt für viele, aber nicht für alle), gesellt sich gut zu Flaschenbier (zumeist ja), braucht keine Schrippe (die ist schon drin), ist warm und kalt zu genießen (eh klar), Senf, Ketchup und Mayo sind die besten Freunde (nachts auf jeden Fall), könnte auch gestrig sein (wohl eher nicht), Muttis sind die besten (selbstverständlich – siehe aber auch den Nachtrag). Offen bleibt, was sich der Kurator und die beteiligten Künstler letztendlich dabei gedacht haben bzw. was den Ausschlag für diesen Titel gegeben hat. Aber ich stimme ihnen zu: Die Überschrift passt zur Ausstellung.

So haben wir hier nun Arbeiten von sechs in Westdeutschland geborenen Wahl-Berlinern, die uns ihre durchaus fleischhaltigen Malereien in der Galerie Greulich zeigen. Beispielhaft wollen wir jeweils eine Arbeit der beteiligten Künstler vorstellen.

Fritz Bornstück zeigt uns Turducken Prince (2020), seine eigene Version einer Matrioschka mit einer Pinocchia im roten Kleid, verschlungen von einem niedlichen Meeressäuger, dem sein gefährliches Innenleben entfernt wurde. Die beiden schauen munter aus dem Rumpf eines sitzenden Dickhäuters und scheinen sich an ihrer nicht artgerechten Haltung zu erfreuen.

Es ist eine Referenz an die unsägliche amerikanische (Festtags-)Tradition, Hackfleisch in ein entbeintes Hühnchen zu stecken, dieses in eine ausgenommene Ente zu stopfen und ins Innere eines Truthahns zu versenken. In den einschlägigen Rezepten findet sich übrigens stets die Warnung, man möge alle Plastikverpackungen vor dem Braten entfernen. So ein Fehler würde dem Maler niemals unterlaufen, dennoch handelt es sich definitiv um keine leichte Kost.

Media Esfarjani arbeitet in einer anderen Dimension der „Fleischigkeit“. Ihr Malwerkzeug sind meist die nackten Hände, entsprechend sind die Texturen auch passenderweise bewusst großzügig, fast cremig oder buttrig anmutend. Flottes Frühstück im Grünen (2022) ist mit unverdünnter Ölfarbe und Lack entstanden; durch die Beschaffenheit der Oberfläche bekommt man nachgerade Lust, die Arbeit zu betasten oder zu streicheln.

Apropos Lust: Manets Frühstück im Grünen (diese aus meiner Sicht unpassende Übersetzung hat sich ja vor langem durchgesetzt) ist nicht nur aufgrund des Titels eine offensichtliche Inspirationsquelle der Malerin. Während beim „Flotten Vierer“ (so angeblich der Arbeitstitel) aus dem 19. Jahrhundert die Herren bekleidet und die

Damen unbekleidet sind, ist die Anzahl der Personen hier auf zwei reduziert, auch die Manetsche Bildkomposition nach Raffael wird geflissentlich ignoriert. Ungeklärt bleibt das jeweilige Geschlecht – und das hängt nicht nur an der deutlich kleineren Bildgröße oder dem geänderten Format. Auch die Frage, bei was das offensichtlich in flagranti erwischte unbekleidete Paar ertappt wird, überlässt die Künstlerin unserer Vorstellungskraft; es findet ja tatsächlich im Grünen beziehungsweise dahinter statt. Neben viel „flottem“ Fleisch sehen wir auch angedübelte Rosen aus Ölfarbe sowie ein gelbes Etwas, das von der eventuell aus der Pizzeria um die Ecke entwendeten Picknickdecke tropft – beides sprengt im Wortsinne den Rahmen der Malerei. Das wäre aber heute kein Grund mehr, im Salon des Refusés zu landen.

Breakfast at Tiffany’s lautet der Titel des kleinen Portraits, das Christina Gay zur Ausstellung beisteuert. Wer müsste bei dem Titel nicht an Holly Golightly denken: Beperlt, besonnenbrillt, behandschuht, beschalt, beklunkert, die Frisur hochgesteckt und mit Diadem versehen – natürlich von Givenchy bekleidet – die, den Kopf zur Seite neigend, sich sehnsuchtsvoll im Schaufenster des noch geschlossenen Flagship Stores des New Yorker Juweliers spiegelt, während sie ihr Heißgetränk mit Gebäck zu sich nimmt. Niemals würde sie sich den Mund verschmieren, selbst die Entsorgung der Frühstücksreste auf der menschenleeren 5th Avenue erfolgt formvollendet. Wie sie im Laufe des Films offenbart, ist das ihr Ort der Geborgenheit, an dem ihr nichts Böses passieren kann. Eine moderne Frau (der sechziger Jahre), die raucht und trinkt, wilde Hauspartys schmeißt, unabhängig und stets glamourös, aber ohne jeden Dünkel und definitiv nicht leicht zu haben. Wie Truman Capote, der Autor der Romanvorlage, später zugab, wollte er mit der Figur den Prototypen der „befreiten Frau von heute“ schaffen.

Ihre kleine Schwester, entstanden 2022, erstellt mit Acryl, Ölfarbe und Ölkreide, ist mehr als ein halbes Jahrhundert jünger und treibt sich wohl eher in Neukölln rum als vor den Schaufenstern des KaDeWe (dort ist die Berliner Tiffany’s-Filiale). Ihre Außendarstellung ist irgendwie auch selbstbewusst, die Matte ignoriert sie genauso wie die etwas zu kleine Perlenkette. Ihre etwas derbe Persönlichkeit könnte vermuten lassen, dass sie gerade etwas Fleischiges seiner Bestimmung zugeführt hat, auch wenn etwas davon an der Oberlippe hängengeblieben ist. Henry Mancinis Moon River könnte man auch zu dem Bild hören, vielleicht mit einem Backgroundbeat gesamplet.

Philip Grözinger, der diese Ausstellung initiiert und mit lockerer Hand zusammengestellt hat, präsentiert seine Version der Fleischeslust: Made in Heaven (2022) ist Teil einer Trilogie, die er für diese Ausstellung gemalt hat. Wer denkt, die Themenwahl wäre Malern wurst, der vertut sich. Wie bei vielen Künstlern ist es eine Mischung aus persönlichen Eindrücken, kunsthistorischem Einfluss und Inspiration aus anderen verwandten Disziplinen wie Film, Musik, Literatur oder Architektur.

Auch in dieser inhaltlich und farblich eher zurückhaltenden Arbeit gibt es wie immer bei Grözinger viel zu entdecken. Sinnbeladenes

teilt sich den Raum mit ästhetischen Elementen. Der Titel könnte von dem sehnsuchtsvollen Griff nach der mit künstlicher Karmin-Lebensmittelfarbe kolorierten typisch dänischen Roten Wurst kommen, also nicht ganz frei von Ironie – oder aber auf das letzte Queen-Album gleichen Namens hindeuten, worauf ja zweimal It’s a beautiful day aufgenommen wurde. Passenderweise beginnt der Song mit den Zeilen: „Es ist ein schöner Tag – die Sonne scheint – ich fühle mich gut – und niemand kann mich jetzt aufhalten – oh yeah!“ (eigene Übersetzung).

Eine andere Perspektive wirft Sebastian Meschenmoser mit seiner aktuellen Arbeit Äffchen1 auf. In Fortsetzung seiner Serie von Tieren in menschengeprägter Umgebung, die ihren Anfang letztes Jahr in der Einzelausstellung El Dorado an gleicher Stelle nahm. Er setzt sich mit der Wiedereroberung der Lebensräume durch die Tiere in ihrer nicht natürlichen Umgebung auseinander. Es gibt keinen Weg zurück in den Urzustand, die Spuren des Menschen sind nicht umkehrbar, aber die Natur passt sich stets an.

So wie der Affe in einem fast menschenähnlichen Gestus hier die Innereien des Plüschtiers ausplündert, empfinden wir als zutiefst widernatürlich. Auch bei uns Menschen selbst findet ein Entfremdungsprozess statt – wer denkt heutzutage beim

geschnittenen oder gehackten Fleisch auf dem Teller noch an die Augen oder Ohren des Opfertiers beziehungsweise an die Existenz, die es vorher geführt hat. Warum sind manche Spezies auf unserem Speiseplan und andere nicht? „Könnt ihr nicht eure dreckigen Pfoten von meinem Körper nehmen, ihr blöden Affen!“ sagt Charlton Heston als Astronaut Taylor naiverweise in der Urverfilmung des Planets der Affen. Vielleicht will uns auch Meschenmoser auf seine Weise die Relativität unserer eigenen Existenz aufzeigen.

Paul Pretzer zeigt uns mit seinem Stillleben von 2022, dass sich kunstgeschichtliche Zitate und Alltagsobjekte zu einem mysteriösen Ganzen verbinden können. Die Vergänglichkeit wird in zwei farblich veränderten Pflanzen aus der Familie der Rosiden, einer schwarzen Rose und einem weißen Kürbis dargestellt. In der Tradition der klassischen Symbolik kann man auch die beiden Bierbüchsen sehen: Nutze den Tag, auch wenn es wahrscheinlich in dem Zustand nicht so einfach sein wird, den Dosenpfand zurückzufordern.

Leblos und dennoch irgendwie lebendig sind die titelspendenden Kopfsachen: ein den niederländischen Meistern entlehnter Madonnenschädel und eine Dix-artige Figur in Orangenhaut – der Maler spendiert uns hier deutlich mehr Fleisch als bei den herkömmlicherweise verwendeten Totenköpfen.

Bei diesen Buletten muss man also gewiss keine schwarze Kruste abschaben oder Fett abtropfen lassen – guten Appetit allerseits! Denn, ob man nun öffentlich dazu steht oder nicht, Buletten mag doch irgendwie jeder.

Nachtrag

Die Angelegenheit müsste nun noch kulinarisch geklärt werden, das liegt mir persönlich am Herzen. 2003 ereignete sich eine kleine kulinarische Sensation, als der Jahrhundert-Koch Eckart Witzigmann das bis dahin wohlgehütete Rezept seiner berühmten Fleischpflanzerl, von vielen Sterneköchen und Gastro-Kritikern dem Vernehmen nach als unerreicht eingeordnet, publizierte. Da dies in Co-Autorschaft mit dem jüngst verstorbenen Alfred Biolek geschah, hießen sie dann

„Unsere Frikadellen“. Wie es überhaupt in jeder Region Deutschlands eigene Namen für dieses zurecht beliebte, aber auch berüchtigte Gericht gibt: Buletten (im Osten und in frankreichnahen Grenzregionen), Hamburger (Berlin-Mitte und -Neukölln), Hacksteaks (Nordosten), Hackbraten (Nordhessen), Köfte (Berlin-Kreuzberg und -Wedding), Faschierte Laiberl (Südbayern), Hacktätschli (Teile Südbadens), Köttbullar (Ikea, überregional), Butterschnitzel (Teile des Ostens),

Bratklops (Norden), Fleischküchle (Südwesten) und in Hessen meist Frikadelle, wie mehrheitlich im Westen nördlich des Weißwurst-Äquators. In Berlin selbst nennt man sie übrigens auch gerne Hundepuffer, Eternitkuchen oder Schrippentorte.

Witzigmanns Zutaten für circa 1 – 4 Personen: 1/8 Liter Milch, 125 g Sahne, Muskatnuss, Salz, Pfeffer aus der Mühle, 100 g Semmeln vom Vortag mit Rinde, 2 mittelgroße Zwiebeln, 1 Knoblauchzehe, 3 EL Butter, 1 Zweig Liebstöckel, 2 Stängel glatte Petersilie, 100 g fetter, gekochter Schinken, 1 TL getrockneter Majoran, 150 g gehacktes Kalbfleisch aus der Schulter, 250 g gehacktes Schweinefleisch aus dem Nacken, 1 TL Dijon-Senf, 2 Eier, 2 EL Öl. Tipp der Autoren: Dazu schmecke übrigens der Kartoffelsalat von Seite 130 sehr gut.

©Peter Ungeheuer, Frankfurt am Main / Berlin, September 2022